Werkschor Auerweg in Kooperation mit dem Stadtmuseum Iserlohn
Zwei Jahre lang hat der Werkschor die Musik von Rio Reiser und Ton Steine Scherben auf die Bühnen der näheren und weiteren Umgebung gebracht. Aber irgendwann muss ja mal Schluss sein, auch wenn die Trennung schwer fällt. Die letzte Station der Rio-Reise wird aber ein ganz besonderer Abend sein, mit netten Gästen, einer kleinen Plauderrunde und einer finalen Aftershowparty, die sich gewaschen hat!
Es gibt viele Wege, die zu Rio Reiser führen. Als erstes fallen einem sicherlich die Hits von seiner ersten Solo-LP ein: der König von Deutschland und Junimond, vielleicht auch Alles Lüge und Für immer und dich. Ältere Semester mit Interesse an den Wurzeln deutschsprachiger Pop-Musik denken vielleicht auch als erstes an die frühen Scherben, an Der Traum ist aus, an Keine Macht für niemand oder an Macht kaputt, was euch kaputt macht – linke Song-Parolen für die Ewigkeit. Vielleicht kommt dem einen oder der anderen auch als erstes Jenseits von Eden in den Sinn: „Heiß, heiß, kochend heiß …“ Oder Ihr wurdet ganz anders und viel später durch eine Hit-Single auf Rio Reiser aufmerksam, durch Blinder Passagier, Geld, Manager oder Zauberland.
Als wir uns daran gemacht haben, aus Rios Musik ein Werkschor-Programm zu basteln, haben wir schnell gemerkt, dass der Schatz viel zu groß ist, als dass man ihn in eine Stunde Gesang pressen könnte. Wir müssten eigentlich zwei oder drei Rio-Reiser-Programme machen, bei einem einzigen bleibt auf schmerzhafte Weise doch einiges auf der Strecke.
Ein wenig ernüchternd war vielleicht die Erkenntnis, dass Rio Reiser durchaus auch ein beinahe am Fließband produzierender Profi-Komponist war. Am Anfang hat er die Jukebox für die politische Linke in Berlin mit Agit-Rock-Protestsongs bestückt, am Ende den eigenen Erfolgen hinterhergejagt und zu allen Zeiten auch massenhaft Songs für Theaterprojekte, Kinderhörspiele und andere Produktionen geschrieben. Er hat auf Knopfdruck das geliefert, was von ihm verlangt wurde. „Jeden Tag ein Song“ war laut seiner Autobiografie sein Credo, schon als er mit 16 Jahren seine erste Band gründete. Bei weitem nicht alles, was er in seinen rund 25 aktiven Jahren rausgehauen hat, kommt tief aus seinem Herzen, ist große Kunst oder hatte die Bedeutung, die man ihm heute vielleicht zumisst. Und ganz leicht macht er es uns ja auch nicht. Die mitunter gruselige Tonqualität einiger Scherben-Platten (vor allem der sagenumwobenen „Schwarzen“, die von den Fans der ersten Stunde als heiliges Meisterwerk verehrt wird, uns heute aber ziemlich sperrig erscheint) oder die mitunter unsäglichen 80er-Jahre-Synthie-Pop-Arrangements seiner Solo-Alben machen die erste Begegnung teilweise nicht gerade einfach. Da muss man sich erstmal durchhören.
Aber es gibt sie natürlich, und nicht zu knapp, diese ganz großen Momente, mit denen er eine den Briten und Amerikanern ebenbürtige deutsche Rockmusik erfunden und dann auf immer neue Höhen geführt hat, indem er sich sehr tief in die eigene Seele blicken ließ. Halt dich an deiner Liebe fest, Der Traum ist aus oder Komm, schlaf bei mir … mehr lässt sich an Gefühlen, an Haltung, an Ehrlichkeit und Einsichten kaum im kurzen Drei-Minuten-Popsong-Format zeigen.
Wie auch immer – die Auswahl war schwierig, und andere hätten sich sicherlich ganz anders entschieden. „Jeder hat seinen Rio und alle sind anders“, sagt Blixa Bargeld. So sieht unser Rio nun aus. Einiges musste rein, anderes kam rein auch ohne zu müssen, einiges wurde schweren Herzens wieder rausgeworfen, und vieles, das es auf jeden Fall verdient gehabt hätte, kam, aus den verschiedensten Gründen überhaupt nie in Frage. Das, was es am Ende in den Probenraum geschafft hat, ist uns in den werkschoreigenen Bearbeitungen im Laufe der Zeit immer mehr ans Herz gewachsen. Die Reaktionen in und nach den Proben vielen von Woche zu Woche begeisterter und beeindruckter, oft auch erschütterter aus – gerade weil so viele Songs nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Die Arbeit an diesem Programm war für uns ohne Zweifel (und trotz Corona) eine tolle und sehr besondere Zeit. Wir hatten schon einige Programme, die uns (und hoffentlich auch unser Publikum) bewegt haben. So tief berührt wie diese Lieder hat uns aber nichts zuvor.