Annelise Kretschmer. Entdeckungen. Photographien 1922 - 1975
(8. September - 27. Oktober 2018)

"Bei einer guten Fotografie ist die Idee in die Wirklichkeit und die Wirklichkeit in die Idee erhoben." (1983)

Annelise Kretschmer zählt zu den bedeutenden Photographinnen der späten Weimarer Jahre.
Orientiert an der „Neuen Sachlichkeit“, jedoch mit einem eigenwilligen ästhetischen Konzept, gehörte die gebürtige Dortmunderin zu den ersten Frauen, die in Deutschland ein eigenes Photo-Atelier eröffneten. Vor ihrer Kamera standen Künstler, Industrielle, Arbeiter, Bauern und immer wieder Kinder, deren Portraits zu den eindrucksvollsten Zeugnissen dieses Sujets zählen. Obwohl sie gleich mit ihren ersten Arbeiten auf den wichtigsten Ausstellungen ihrer Zeit in Paris, Wien und Berlin vertreten war, geriet ihr Werk während der dreißiger Jahre, als sie sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen musste, zunehmend in Vergessenheit. 1950 erfolgte die Wiedereröffnung des Ateliers in Dortmund. Annelise Kretschmer etablierte sich schnell als Photographin, die das neue Selbstverständnis der bürgerlichen Nachkriegsgesellschaft in ihren Portraits auf subtile Weise spiegelte.

Mit rund 70 Vintage Prints – Leihgaben aus dem Nachlass der Künstlerin – präsentiert die Städtische Galerie Iserlohn ein umfangreiches Konvolut an Originalabzügen. Neben bekannten Aufnahmen aus der Vorkriegszeit stellt die Schau auch Entdeckungen aus den fünfziger und sechziger Jahren vor. Der überwiegende Teil der Exponate wurde außerhalb dieses Ausstellungsprojekts niemals zuvor öffentlich gezeigt.

 

Paris

Eine Reise durch Frankreich verschaffte Annelise Kretschmer 1928 eine Abwechslung zum Atelierbetrieb in Dortmund. Während ihres Aufenthalts in Paris entstand eine Bildserie, die sich deutlich von der Großstadtphotographie ihrer Kolleginnen Germaine Krull oder Florence Henri abhob. Annelise Kretschmer interessierten die Oberflächenstrukturen des Alltags.

Obwohl sie als Flaneurin die Stadt erkundete, haftete ihrem Blick nichts Zufälliges an. Gezielt suchte sie nach Texturen in der urbanen Welt, wie sie nur die Photographie darzustellen vermag. Die Fassaden der Häuser, die Muster der Treppen oder die Regentropfen auf einer Fensterscheibe entdeckt sie als visuelle Muster des Großstadtkosmos.

Mit der Fähigkeit, Formen und Strukturen aus ihrem Zusammenhang zu lösen und sie als Chiffren der gegenständlichen Welt sichtbar zu machen, erinnern ihre Aufnahmen an die neusachlichen Arbeiten ihres Zeitgenossen Alfred Ehrhardt. Nur noch vereinzelt nimmt sie in späteren Jahren diesen ästhetischen Ansatz so explizit auf, wie in ihrer Photographie einer bekritzelten Hauswand in Dortmund oder dem Blick auf geschichtete Torfquader in Worpswede.

Die Porträtsituation

Im Gegensatz zu den damals üblichen langen Porträtsitzungen, wie sie etwa der berühmte Hugo Erfurth praktizierte, verliefen die Atelierbesuche in Dortmund für die Kunden eher ungewohnt. Oftmals erkundigten sich die Männer und Frauen im Vorfeld, wie sie sich kleiden sollten. Annelise Kretschmer entgegnete dann: „Ziehen Sie doch das an, was Ihnen gefällt ...“ Meistens machte sie nicht mehr als zehn oder zwölf Aufnahmen, so dass sich die Kunden überrascht darüber zeigten, wie schnell die Sitzung beendet war. Ein Kunde, der in jungen Jahren von ihr photographiert worden war, erinnerte sich später, dass er zunächst mit dem Portrait, das sie von ihm gemacht hatte, nicht zufrieden gewesen sei. Jahrzehnte später fiel ihm jedoch auf, dass das Photo ihn so zeigte, wie er im Laufe seines Lebens geworden war.

„Die eigentliche Schwierigkeit bei der Portraitphotographie ist es, den Menschen zu einer Selbstdarstellung zu bewegen, in der seine wesentlichen Charakterzüge zum Ausdruck kommen. Wenn der Photograph es schafft, einen Kontakt zu seinem Gegenüber herzustellen, dann kann eine Charakterisierung gelingen“, erklärte sie 1982 in einem Interview. Das Fazit ihrer Arbeit als Photographin zieht sie wenige Jahre vor ihrem Tode mit den Worten: „Mich hat nie die technische Seite der Photographie interessiert, die natürlich beherrscht werden muss, sondern der Prozess, die starre Optik des Apparates zu verlebendigen, das, was das phantasiebegabte Auge als Erlebnis hat – nun doch durch die Apparatur zum Kunstwerk umgewandelt – wiederzugeben.“

"Die eigentliche Kunst bei der Porträtfotografie besteht darin, den Menschen zu einer Selbstdarstellung zu bewegen, in der seine wesentlichen Charakterzüge zum Ausdruck kommen." (1983)

Kinder

Nach 1933 verschlechtert sich die Auftragslage und Annelise Kretschmer wird aufgrund ihrer Herkunft - der Vater war jüdischer Abstammung – aus der Gesellschaft Deutscher Lichtbildner ausgeschlossen. Die Familie lebt ab 1937 für zwei Jahre in Worpswede. Schon 1927 hatte sie Norddeutschland bereist und Fischer auf Hiddensee fotografiert. In Worpswede entstehen Aufnahmen der ansässigen Bauern, und sie findet Zeit, ihre Kinder zu portraitieren. Die Kinder sind ein Sujet, das sie stetig beschäftigt. So entstand 1934 auf der Insel Spiekeroog eine Serie, die ihre Tochter Tatjana im Spiel mit ihrem Vater Sigmund Kretschmer zeigt.

Auf Augenhöhe nimmt Annelise Kretschmer Kinder als Persönlichkeiten wahr, die eigenständig agieren und denen sie wechselnde seelische Stimmungen zugesteht. Das Kind muss sich nicht an die Vorstellungen des Kindseins anschmiegen, deren Projektionen die Erwachsenenwelt manchmal mit der Realität verwechselt. Annelise Kretschmer bringt dem kindlichen Gegenüber den gleichen Ernst wie den Erwachsenen entgegen, indem sie ihm die Freiheit über seine Erscheinung einräumt.

 

Das neue Atelier

Das im Krieg zerstörte Atelier wird 1950 wieder eröffnet. Annelise Kretschmer verdient den Unterhalt der Familie mit der Passbildkundschaft, die aus allen Bereichen der Gesellschaft kommt. Für die Portraits findet sie ihre Kunden im Kreise des Bürgertums und der Industrie. „Ich habe Familien durch drei Generationen hindurch photographiert. Ebenso reizte es mich aus einer ersten Begegnung heraus das Wesen einer Person zu erfassen“, erklärte sie im Mai 1982 Ute Eskildsen, der Leiterin der Photographischen Sammlung des Museum Folkwang in Essen. Zu Anneliese Kretschmers engsten Freundinnen zählt Leonie Reygers, die Direktorin des Museums am Ostwall in Dortmund. Viele Bekanntschaften mit namhaften Künstlern der Zeit knüpft sie während der 1960er Jahre. Besonders geschätzt werden ihre Arbeiten von Daniel-Henry Kahnweiler, dem Galeristen von Pablo Picasso, Georges Braque und Juan Gris.

Schon zu Beginn der 1930er Jahre stellte Annelise Kretschmer Arbeiten, die im Atelier entstanden, in einem Schaukasten am Alten Markt in der Dortmunder Innenstadt aus. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde die Vitrine immer wieder beschmiert oder beschädigt. Nach dem Kriege errichtet man sie an anderer Stelle neu und sogleich erfreute sie sich großer Beliebtheit bei den Passanten, die einen Blick auf die prominente Kundschaft und das Schaffen der Photographin werfen konnten.

Die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten entstammen dem Nachlass der Künstlerin.

Die Photographin

Als eine der ersten Frauen in Deutschland eröffnet Annelise Kretschmer 1929 ein eigenes Photostudio. Mit ihren Arbeiten ist sie sowohl auf der vom Deutschen Werkbund organisierten internationalen Ausstellung „Film und Foto“ als auch 1930 auf dem 25me Salon International D'Art Photographique in Paris vertreten. Aufsehen erregen ihre unkonventionellen Modeaufnahmen, die sieAufsehen erregen ihre unkonventionellen Modeaufnahmen, die sie in Zeitschriften und Illustrierten publiziert. Annelise Kretschmer interessierte die Modephotographie jedoch vor allem, weil sich ihr dort die Möglichkeit bot, ihre Entwicklung als Portraitphotographin voranzutreiben.

In den 1920er Jahren des letzten Jahrhunderts wird das Portraitgenre noch stark von der Tradition der Malerei beeinflusst. Annelise Kretschmer löste das Portrait in ihren Arbeiten aus dieser Statik. Sie schließt den Hintergrund oder belässt ihn in Unschärfe und rückt so das Gesicht deutlich in den Vordergrund des Bildes. Obwohl sie ihren Modellen die Pose zugesteht, gelingt es ihr, das Maskenhafte des Gesichts zu überwinden. Ungewöhnlich für ihre Zeit ist die Tatsache, dass sie Schatten oder Lichtreflexe auf die Gesichter fallen lässt. So wird das Gesicht zu einer Oberfläche, auf der sich die Unruhe der Welt spiegeln kann, zugleich befreit sie das Portrait aus dem Diktat seiner repräsentativen Funktion.

Technische Details

Annelise Kretschmer verwendete einen 15-Din-Film 6x6, der nicht sehr lichtempfindlich war und wählte für Belichtung und Entwicklung etwas mehr Zeit als üblich, so dass sich differenzierte Schwarzweißkontraste und gesättigte Grauwerte ergaben. Sie belichtete aus dem Gefühl und der Erfahrung heraus. Schon als junge Photographin hatte sie mit Franz Fiedler, für den sie in Dresden arbeitete, die Photopapiere der Firma Mimosa getestet und mit ihnen in Italien experimentiert

 

alle Abb. ©Annelise Kretschmer / von Königslöw

Ausstellungsdauer:        8. Sep  - 27. Okt 2018

 

Ausstellung in Kooperation mit dem Käthe-Kollwitz-Museum Köln und dem Museum Böttcherstraße, Paula-Modersohn-Becker-Museum, Bremen

Kurator: Thomas Linden, Köln

Zur Ausstellung ist im emons: Verlag die gleichnamige Publikation erschienen.